Vortrag am Studientag „Missbrauch und Gewalt keine Chance geben!- Information und praktische Hilfen zur Prävention in kirchlichen Arbeitsfeldern“der Katholischen Kirche in Oberösterreich am 11.April 2013 in Linz
Die Allgewalt der Liebe zeigt sich vielleicht
nirgends stärker als in diesen Verwirrungen.
Das Höchste und das Niedrigste hängen in
der Sexualität überall am innigsten zusammen.
(S.Freud, 1905)
DEN TÄTERN BEGEGNEN
Mir ist kaum ein anderes Rechtsgebiet bekannt, dass in den letzten Jahren so oft geändert worden wäre wie das Sexualstrafrecht – sieht man vom Ausländerrecht einmal ab. Sich schnell ändernde Strafbestimmungen schaffen nicht nur Verwirrung, weil der einfache Bürger kaum mehr weiß, was denn jetzt eigentlich gilt, sie geben auch einen Hinweis auf die Unsicherheit der Gesellschaft wie mit bisher unbekannten oder tabuisierten Gefahren und Misständen umzugehen ist. Im Fall des sexuellen Missbrauchs wurden Schutzbestimmungen, wie z.B das Schutzalter für Opfer sukzessive vom 14. auf das 18. Lebensjahr hinaufgesetzt und die Strafdrohungen so wie Verjährungsfristen erhöht. Außerdem wurden neue Straftatbestände geschaffen, die neue Formen der sexuellen Ausbeutung – Stichwort Internetkriminalität – unter Strafe stellen. Dient der Ruf nach strengeren Strafen wirklich einer sachlich fundierten Problemlösung? In unserer Mediengesellschaft zählt alles was Quote bringt, vor allem Sensationen und Skandale, Sex und Crime. Und da hat das Phänomen des sexuellen Missbrauchs an Aufregung tatsächlich einiges zu bieten. Aber wie soll man auch nüchtern und sachlich bleiben angesichts der Qualen und des Leids von Kindern und Opfern. Wenn uns Täter wie Priklopil oder Fritzl über Monate und Jahre in den Medien präsentiert werden, prägen solche Kaliber und noch viele andere schwerste Gewaltverbrecher das Klima in dem über Probleme und Fragen des sexuellen Missbrauchs an Abhängigen gesprochen und verhandelt wird. Wir sollten die Dämonisierung möglichst vermeiden- aber auch die Bagatellisierung. Tasächlich reicht die Palette der Täter von ganz wenigen hochgefährlichen, sadistischen Gewalttätern und Sexualmördern über die große Gruppe der Missbraucher mit eher weniger körperlicher Gewalteinwirkung und den sexuell auf Kinder vor der Pubertät fixierten Pädosexuellen, über die Gruppe der jugendlichen Täter, die nicht selten auch gewaltsame sexuelle Übergriffe setzen bis zu der Flut von Konsumenten der Kinderpornografie, die in der Regel nie reale Sexualkontakte mit Kindern haben. „Den Tätern begegnen“, habe ich diesen ersten Absatz meines Vortrags genannt. Wir begegnen dem Täter also in erster Linie über die Medienberichterstattung. Dann gibt es die Erzählungen der Opfer über den Täter. Im professionellen Rahmen begegnet z.B. die Opferhilfe und die Menschen, die mit dem Opfer in Kontakt stehen, dem Täter über diese Berichte. Diese Erzählung wird stark von den Gefühlen des Opfers gegenüber dem Täter, von Scham, Schuldgefühl vielleicht auch Wut und Unsicherheit, ob ihm überhaupt geglaubt wird, geprägt sein.
Dann sind jetzt die an der Reihe, die mit dem Täter unmittelbar zu tun haben: Also einmal Freunde, Partner, Nachbarn, Kollegen, Vorgesetzte, etc., die ihn schon länger kennen, und dann natürlich die Professionisten: Polizei, Gericht, Strafvollzugspersonal, Bewährungshelfer, Psychologen und Therapeuten, die mit den Tätern oft über Jahre zusammenarbeiten. Aus meiner Erfahrung kann ich ihnen sagen, dass da immer ein Mensch, dem man sowas vielleicht nicht zutrauen würde, der auch Gefühle hat, vor einem sitzt. Seine Erzählung über die Tat ist in der Regel geprägt von Scham, Verharmlosung und Verleugnung, von Strafangst und Manipulation.
Wenn man alle diese Geschichten von derselben Begebenheit am Ende vergleicht dann kommen manchmal soviele wiedersprüchliche Erzählungen heraus, wie Sie sie vielleicht aus dem Film „die Sieben Samurai“ kennen. Man weiß zum Schluß nicht mehr recht wer da das Opfer und wer der Täter war. Was da alles zusammengespielt hat, dass es zu diesem Ereignis gekommen ist.
Drei Hinweise wollte ich ihnen mit diesem Absatz geben:
Erstens, das Monster, dass wir vielleicht aus den Medien kennen erweist sich im Gespräch immer noch als jemand, der trotz seiner abstoßenden Tat und den abgründigen und perfiden Seiten seiner Persönlichkeit als Mitmensch angenommen werden kann..
Zweitens, die Wahrheit ist nie endgültig oder wie ich das gerne sage: „Die Wahrheit ist ein Vogerl“. Bald ist sie hier, bald fliegt sie weg, bald sieht man sie wieder wo in der Nähe und dann in der Ferne. Das gilt für alle Beteiligten, nicht nur für den Täter. Deshalb ist es so wichtig, sich immer wieder an Fakten oder „Sachbeweisen“ zu orientieren, wie das die Juristen bezeichnen. Wir sind alle manipulierbar. Erst wenn ich bei einem leugnenden Täter zB die Fotos aus dem Gerichtsakt sehe, kommt mein Bild der Wahrheit wieder näher.
Drittens, die Täter sind fast ausschließlich Männer.
Viertens, ich schlage ihnen eine von Opfertypen abgeleitete Bezeichnung von Sexualtätern vor und versuche damit ein wenig Ordnung in diesen verwirrenden Einheitsbrei von Sexualtätern zu bringen, die ja oft miteinander überhaupt nicht vergleichbar sind. Als Vergewaltiger bezeichen wir Täter, die die sexuelle Integrität von Erwachsenen verletzen. Mißbrauchstäter sind solche, die die sexuelle Integrität von Minderjährigen (unter dem 18.LJ) verletzten. Diese Gruppe unterscheide ich wieder in Inzesttäter – das sind solche deren Opfer mit ihnen entweder verwandt sind oder mit ihnen in der Familie leben – und in Pädophile – damit bezeichne ich die Tätergruppe, die sich sexuell an Kinder und Minderjährige außerhalb der Familie heranmachen. Ich werde später dafür noch einige Beispiele bringen.
WIE WIRD MAN/MANN ZUM TÄTER?
Lassen sie mich jetzt auf die sehr schwierige Frage eingehen wie man/Mann zum Täter wird. Die Frage ist, wie kommt es dazu, dass Menschen entgegen allen Regeln der Kultur, des Anstands, der Moral, des Gesetzes – kurz gegen alle Verbote – sexuelle Handlungen mit Kindern setzen und damit zumindest in kauf nehmen, ihren Opfern ganz schweren Schaden zuzufügen. Was sind das für Menschen?
Sind das perverse Sadisten, die sich haltlos ihrem Trieb ausliefern?
Sind es gewissenlose Lüstlinge, die einzig auf sexuelle Lustmaximierung -koste es was es wolle – aus sind?
Sind es Machtmenschen die glauben, dass sie über dem Gesetz stehen?
Sind es psychisch schwer gestörte – also kranke Menschen?
Sind es in ihrer sexuellen und persönlichen Entwicklung zurückgebliebene Männer?
Sind es Pädophile, die nach Stand der Wissenschaft unheilbar sind, und deshalb ihre Sexualität ihr Leben lang unterdrücken müßten?
Sind es sexuell gehemmte Männer, die Angst haben bei erwachsenen Frauen sexuell zu versagen?
Sind es vereinsamte, sozial isolierte Männer, die sich sexuell gerade noch an Kinder heranwagen, weil sie Angst haben von Erwachsenen abgewiesen zu werden?
Sind es von ihren Partnerinnen frustrierte Männer, die sich das was ihnen ihrer Meinung nach sexuell zusteht, von ihren Kindern holen?
Sind es Menschen, die Kinder über alles lieben und die Grenze zwischen Zärtlichkeit und Sexualität überschreiten?
Tatsächlich – ich kann ihnen bestätigen, dass alle diese Täterklischees und noch viele mehr unter Kindesmißbrauchern zu finden sind. Aber auch Menschen wie du und ich sind darunter die vielleicht noch zusätzlich ein Problem haben und dafür eine skandalöse Problemlösung gefunden haben.
Bei der Frage nach der Entstehung der sexuellen Abweichungen von der „normalen“ Sexualität muß ich in einem ersten Schritt die Grundlagen, auf denen unsere Sexualität und unser Sexualverhalten aufruht untersuchen, um dann in einem zweiten Schritt Erklärungen für die Störungen der sexuellen Präferenz und der Perversion zu suchen.
Wenn man sich mit sexuellem Missbrauch beschäftigen will, kommt man um die Sexualität nicht herum. Nicht um die „normale“ und auch nicht um die eigene.
Vorweg muß ich klarstellen, dass die Biologie keine natürlich festgelegte sexuelle Ordnung beim Homo sapiens vorgesehen hat – leider, oder Gott sei Dank. Allerdings dient uns die Biologie, die Tier-und Pflanzenwelt, gerne als Vorbild für sexuelle Abläufe – vornehmlich denen der Fortpflanzung. Denken sie nur an den Aufklärungsunterricht alter Prägung. Es gibt in Wahrheit kein „biologisches Programm“, das das menschliche Sexualverhalten durch Instinkte genetisch steuert. Wenn wir geboren werden, sind wir bezüglich der Ausgestaltung unserer Sexualität nach der Geschlechtsreife überhaupt noch nicht festgelegt. Das Neugeborene ist eine unbeschriebene Matrix. Erst durch die Prägung in der frühen Kindheit, durch Pflege und Erziehung und den Forderungen und Spielregeln der Kultur findet der Mensch zu seiner sexuellen Orientierung. Nämlich für welche Sexualpartner und für welche Sexualpraktiken er sich entscheidet. Was normal ist entscheidet also nicht die Natur, die Biologie, sondern die jeweiligen kulturellen Standards und Übereinkünfte. Wir dürfen uns deshalb nicht wundern welche abstoßenden Formen des sexuellen Mißbrauchs in früheren/anderen Kulturen als normal toleriert wurden und werden. (Z.B die „Knabenliebe“ im alten Griechenland- eigentlich eine Form der Kinderprostitution, oder die Verheiratung von Kindern an alte Männer in traditionellen, patriarchalischen Kulturen. Und wird nicht der Kindersextourismus z.B in Thailand, obwohl zwar vom Strafgesetz verboten, gesellschaftlich nicht doch toleriert, wie der Opiumanbau?)
Was sind also die Grundlagen unserer Sexualität, wenn sie nicht von der natürlichen Ordnung vorgegeben ist?
Lassen sie mich einen kurzen Ausflug in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie machen. (Die folgenden Gedanken dazu habe ich zu einem wesentlichen Teil dem Essayband des belgischen Psychoanalytikers Paul Verhaeghe, Liebe in Zeiten der Einsamkeit, 2004, Turia und Kant, entnommen.) Freud hat die psychosexuelle Entwicklung des Kindes untersucht und mit der Feststellung einer infantilen Sexualität große Ablehnung und wütende Reaktionen nicht nur in der damaligen puritanischen Gesellschaft sondern auch in akademischen Kreisen geerntet. Wie äußert sich das Sexuelle beim Kind?
Die kindliche Sexualität besteht vor allem in den wohltuenden Empfindungen, die bei Berührung und Reizung der erogenen Körperzonen, der Mund-oder Oralregion, der Analregion und der urethral-genitalen Zonen auftreten. Wir sprechen hier von „Partialtrieben“ – also verschiedenen Triebteilen des libidinösen Triebs, die das Kind autoerotisch – also selbständig, ohne Einflußnahme von Erwachsenen lustvoll befriedigen kann. Das heißt, dass der Trieb nie auf den ganzen Körper sondern eben partial auf Teile, Fragmente, des Körpers, bzw Körperpartien gerichtet ist. Die betreffenden Körperteile sind immer jene, mit denen man mit der Außenwelt in Kontakt tritt: Genitalorgane, Anus, Mund, Auge, Ohr und die Aktivitäten, die damit in Verbindung stehen: Fühlen, Hören, Sehen, Saugen, Eindringen. Während des Reifungsprozesses und schließlich mit der Geschlechtsreife in der Pubertät werden die Partialtriebe mit dem ab jetzt leitenden genitalen Trieb zusammengeführt.
Der Sexualtrieb des Erwachsenen ist also nicht bloß auf das Genitale beschränkt sondern bindet auch die orale, anale, urethrale, exhibitionistische, voyeuristische etc. Erotik in das Sexualleben ein. Der Trieb ist grundsätzlich autoerotisch. Für den Partialtrieb ist der andere nie das Ziel sondern immer nur ein Mittel. Das Kleinkind, das mit dem Daumen im Mund, befriedigt und weit weg von der Welt einschläft, ist das beste Beispiel dafür. Das Ziel des Partialtriebs ist somit nicht das Du, oder der Mitmensch, der andere, sondern das Erlangen eines Genusses, einer Befriedigung. Der Andere ist gewissermaßen überflüssig. Er oder sie sind als Objekt nur ein Mittel, um etwas zu erlangen.
Vermutlich ist dieser theoretische Teil für sie eher abschreckend. Es ist auch jener Teil von Freuds Arbeiten, der am schwersten zu verdauen ist. Es liegt wohl an der Aussage, dass der Trieb polymorph-pervers und autoerotisch ist, und der oder die Andere nur ein bedeutungsloses Objekt ist. Ein Objekt, das auswechselbar ist, das bestenfalls der Triebbefriedigung dient. Warum diese Idee auf so große Ablehnung stößt, muß ähnliche Gründe haben wie das ehemals so massiv und gewaltsam durchgesetzte Verbot der Masturbation bei Kindern und Jugendlichen.
Es entsteht bei meiner Darstellung des Triebs ja schnell der Eindruck, dass ich meinen könnte, dass letztlich jeder von uns pervers ist. Aber soweit möchte ich nicht gehen. Freud hat mit seiner Behauptung, dass das Kind „polymorph-pervers“ sei, gemeint, dass eventuelle Perversionen Erwachsener bis ins Kindesalter zurückreichen. Wenn wir uns in unsere Kindheit zurückversetzen erinnern wir uns vielleicht daran, zusammen mit anderen Kindern mit Begeisterung Doktor gespielt zu haben. Bei diesem Spiel sind mehrere Partialtriebe am Werk: Ansehen und Zeigen sind offensichtlich urethral, anal und genital, aber auch Beherrschen und sich Beherrschen lassen und das sowohl mit Kindern gleichen und anderen Geschlechts. Aus der klinischen Arbeit wissen wir, dass diese Spiele der Kindheit und die damit verbundenen Phantasien in der Erwachsenensexualität noch immer eine Rolle spielen. Wenn man also davon ausgeht, dass nicht die Biologie den Weg zu einem sogenannten normalen erwachsenen Sexualverhalten vorzeichnet, sondern jeder von uns mit einer seltsamen Mischung aus Partialtrieben geboren wurde, stellt sich tatsächlich die Frage, wie es uns gelungen ist, dass wir nicht pervers geblieben sind. Wie es uns gelungen ist, die infantilen Partialtriebe mit den genitalen Triebbedürfnissen, die durch die hormonell bedingte Geschlechtsreife in der Pubertät dominant gewordenen sind, zu vereinigen und ihnen unterzuordnen? Dieser Prozess ist nicht selbstverständlich sonder höchst störanfällig. Die Partialtriebe der Genitalität unterordnen heißt nicht sie auszuschließen sondern im Gegenteil, sie zur Untermalung, zum Anheizen der genitalen Lust zu nutzen, die schließlich im koitalen Orgasmus zu ihrem Höhepunkt kommt. So sollte es zumindest laut Lehrbuch funktionieren. Es besteht auch die Gefahr, dass die einzelnen Partialtriebe sich als Störenfriede entpuppen und den Primat der Genitalität unterwandern und beginnen ein Eigenleben zu führen. Das könnte dann eine Perversion zur Folge haben.
Wenn wir jetzt also einmal Ordnung in die Triebe gebracht haben, fehlt noch das allerentscheidendste Stück Arbeit für eine gelungene Sexualität. Dass es uns nämlich gelingt, die Triebe, nachdem sie zusammengekommen sind, auf ein Du, auf einen anderen als Liebesobjekt hinzusteuern. Dafür bedarf es einer existentiellen menschlichen Grunderfahrung – nämlich der von Bindung und Beziehung.
Der zweite Treiber nach dem Trieb ist die Zärtlichkeit, die Liebe. Die Liebe ist ein eigenständiges von den Trieben losgelöstes Phänomen. Im Gegensatz zum Trieb, bei dem das Objekt – oder der andere – höchstens ein Mittel zur Befriedigung und deshalb austauschbar ist, dreht sich bei der Liebe alles um diesen einzigartigen und unersetzbaren anderen Menschen, den man liebt. Psychoanalytisch gesehen ist die Liebe, die Zärtlichkeit, die Voraussetzung für unsere psychische Existenz. Ohne, dass wir als Kinder die Liebe der Eltern erfahren haben, können wir nicht überleben. Daraus wird schon erkennbar, dass das Basismodell für die Liebe nicht in der Liebe zwischen Mann und Frau sondern in der Liebe zwischen Mutter und Kind liegt.
Bevor ich diesen Gedanken aber weiter ausführe lassen sie mich noch auf die mehr oder weniger reife Liebe zwischen Erwachsenen eingehen. Sie kämpft mit dem Problem, dass sie die „zärtliche Strömung“ und die „sinnliche Strömung“ – wie Freud das genannt hat – also die Zärtlichkeit und das triebhafte Sexuelle unter einen Hut bringen muss. In seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie behauptet Freud, das Glück in der Liebe hänge davon ab, wie der einzelne diesen Gegensatz auflöst: „Die Normalität des Geschlechtslebens wird nur durch das exakte Zusammentreffen der beiden auf Sexualobjekt und Sexualziel gerichteten Strömungen, der zärtlichen und der sinnlichen gewährleistet.“ Damit meint er also, dass das, was man unter normalem Sexualverhalten landläufig versteht, nämlich die liebevolle sexuell-genitale Vereinigung – das wäre also das Sexualziel – zwischen zwei Menschen, die sich lieben – das wäre das Sexualobjekt – , nur gelingen kann, wenn die getrennt fließenden Ströme der Zärtlichkeit und der Sinnlichkeit ineinanderfließen. Freud verwendet noch eine härtere Metapher. Er sagt: „Es ist wie der Durchschlag eines Tunnels von beiden Seiten her.“ Wir haben Grund zum Zweifel, ob dieses Idealbild unserer Lebens- und Sexualpraxis tatsächlich entspricht. Ob die zwei Tunnelröhren, die da von verschiedenen Seiten gegraben werden, je zusammenfinden oder ob sie nicht nebeneinander vorbeilaufen. Dass es oft zwei parallel verlaufende Beziehungen, eine zärtliche und eine sinnliche sind und die Tunnel nie aufeinandertreffen. Und das aus verständlichen Gründen: Die Zärtlichkeit behindert die Sinnlichkeit und umgekehrt. Es ist kein Zufall, dass kleine Kinder, die ihre Eltern beim Beischlaf überraschen, diese sogenannte „Urszene“ als Kampf interpretieren. Sexualität kommt ohne Wildheit – also ohne einem Schuß Aggression – nicht aus. Aus der klinischen Praxis wissen wir: Zu viel Zärtlichkeit beim Mann schadet der Erektion und nach hartem Sex zu verlangen ist für die Frau meist schambesetzt und kann schnell mit Lieblosigkeit in Zusammenhang gebracht werden. Also auch den reifen Liebesbeziehungen macht die ewig problematische Beziehung von Liebe und Trieb schwer zu schaffen. Die „Normalität des Geschlechtslebens“ ist dementsprechend keine Selbstverständlichkeit. Vor allem für Menschen, die in ihrer psychosexuellen Entwicklung behindert wurden.
Lassen sie mich hier wieder auf die Liebe zwischen Mutter und Kind – dieser vollkommenen Einheit – zurückkommen, die zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr für immer zerbricht, was zu einem grundsätzlichen Gefühl eines Mangels führt, der unser ganzes weiteres Leben bestimmen wird. In der Zeit davor stellt dies Einheit eine Geschlossenheit im Sinne von Ausschließlichkeit dar. Mutter und Kind sind in dieser vorsprachlich-symbiotischen Beziehung auch kein getrenntes Wesen; es ist gar nicht vorstellbar, dass sie getrennt voneinander existieren können auch wenn sie sich natürlich in der Realität oft nicht am gleichen Ort aufhalten. Die Ausschließlichkeitsbeziehung der Schwangerschaft wird auch nach der Geburt noch lange Zeit fortgesetzt. Der Eine ist alles für den anderen. Doch diese Art von umfassender Beziehung ist in ihrer ursprünglichen Form dem Untergang geweiht. Die Einheit ist für immer zerbrochen, weil sich die Sprache dazwischen geschoben hat. Vor der Existenz der Sprache funktionierten die Bedürfnisse automatisch, es herrschte eine Unmittelbarkeit, die keinen Vermittler (Sprache) brauchte. Die Sprache schafft Distanz und Differenz. Die Mutter ist dadurch eine andere geworden. Aber auch das Kind ist durch diese Differenz ein anderes geworden. Es ist ihm jetzt möglich über seine eigene Identität zu reflektieren und sich als eigenständiges Subjekt zu erleben. Obwohl dieser Entwicklungsschritt in die Individuation mit viel Selbstbestätigung erfolgen wird, kann das alles doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die alte Einheit definitiv verloren ging und ein grundsätzliches Gefühl von Mangel deshalb in jedem von uns (mehr oder weniger) weiter existiert. Der Mensch ist von einem unstillbaren Begehren nach dieser ehemaligen Vollkommenheit begleitet und da die verloren ist, wird das Begehren in alle möglichen Bereiche, vor allem in andere Beziehungen, aber auch in den Konsum verlagert. Ja, man kann sogar sagen, dass aus der Suche nach der verlorenen Liebe die Grundlage der Kultur entsteht. Aber es wird niemals dieses Begehren befriedigt.
Gleichzeitig mit der Auflösung der Mutter-Kind-Einheit werden die Partialtriebe aktiver – wir sprechen von der sogenannten prägenitalen Phase – und ab jetzt entwickeln sich Liebe und Trieb gemeinsam. Die darauffolgende ödipale Phase erweitert das Beziehungsleben um den Dritten, den Vater, der sich einerseits zwischen Mutter und Kind schiebt und zum Rivalen des Knaben wird, andererseits löst sich das Mädchen leichter von der Mutter, indem es eine eigenständige „inzestuöse“ Liebesbeziehung zum Vater sucht. Die sogenannten ödipalen Liebesbeziehungen der Kindheit bleiben als Muster unvermeidlich im weiteren Leben bestehen. Sie sind spürbar sobald sich der Mann oder die Frau im Erwachsenenalter auf die Suche nach einem Partner machen um ihre eigene Beziehung zu knüpfen. Die Wahl des Partners hängt, so oder so, immer von jener ersten und folglich inzestuösen Liebe ab. Das heißt nicht, dass man sich seinen Partner nach dem Vorbild der Eltern nehmen muss. Im Gegenteil, oft ist es gerade umgekehrt, weil man ja nicht an Vater oder Mutter im Partner erinnert werden will. Trotzdem werden Erwartungen, die die Eltern an das Kind hatten dann unbewußt auf den Liebespartner übertragen. Man macht Karriere für oder gegen Vater oder Mutter. So kommt es , dass die Vergangenheit die aktuelle Liebesbeziehung schwer belasten kann: Eine Frau, die noch eine Rechnung mit ihrem Vater offen hat, wird bei ihrem Mann mitleidslos vorgehen und eine Frau, die immer noch die Anerkennung ihres Vaters sucht, wird alles für ihren Partner tun. Aber auch der Schatten des Inzests liegt wie ein Verbot über dem Körper des Partners. Sex kann man nur wirklich genießen, je weiter man von der Mutter entfernt ist.
Je weniger der Trieb und die Liebe integriert ist, desto schwieriger wird das sexuelle Vergnügen in einer Liebesbeziehung und es werden Auswege gesucht. Der Trieb ist autoerotisch, austauschbar, anonym und ausschließlich auf die Lust gerichtet. Die Liebe ist wechselseitig und auf den Partner und vor allem auf sein Begehren gerichtet, d.h., mein Liebesglück hängt zur Gänze vom Glück des anderen – eben, dass ich ihn glücklich mache – ab. Es kann also zu einer Spaltung kommen zwischen Liebe und Trieb. Beim Mann präsentiert sich diese Spaltung in der Polarisierung von Madonna und Hure. Je mehr er in der Partnerin die Züge der vergöttlichten Mutter erkennt, desto unmöglicher wird ihm eine sexuelle Annäherung. In der Frau als Hure wird die Frau ebensoweit herabgesetzt, wie sie als Mutter vergöttlicht wurde. Somit werden Schuldgefühle gegenüber der Frau aktiviert. Die Spaltung kann bei nur einer Partnerin eingesetzt werden, die dann abwechselnd als Heilige und Hure angesehen wird, oder tatsächlich parallel zur Partnerin durch Besuch einer Prostituierten oder einer Nebenbeziehung erfolgen.
Ich möchte jetzt auf ein anthropologisches Phänomen zu sprechen kommen, auf das viele Perversion zurückzuführen sind und das mit der Urangst vor der Sexualität der Frau zu tun hat. Es ist das männliche Phantasma von der unbegrenzten sexuellen Genußfähigkeit der Frau. Diese Projektion des Mannes löst in ihm Angst aus und schlägt ihn vor der Frau in die Flucht. Es ist ein Motiv, das bei Männern in aller Regel unbewußt wirksam ist. Was sollte für Männer an dieser angeblich grenzenlosen Sexuallust der Frau so beängstigend sein? Der Mann phantasiert dabei, dass die Frau über eine Sinneslust verfügt, die ihn auf ein reines Objekt, auf ein passives, konsumierbares und aufbrauchbares Instrument reduziert. Was der Mann unbewußt fürchtet ist die Übertretung, die Überschreitung jener Grenze hinter der er aufhört zu existieren. Die amerikanische Feministin Camille Paglia, die Maske der Sexualität, 1992, behauptet: „Für den Mann ist jeder Geschlechtsakt eine Rückkehr zur Mutter und die Kapitulation vor ihr. Für die Männer ist die Sexualität Kampf um die Identität. In der Sexualität wird der Mann gefressen und wieder ausgespiehen von der zähnebewehrten Macht, die ihn geboren hat, dem weiblichen Drachen Natur.“ Hinter der Urangst des Mannes vor der sexuellen Frau steht also eine sexualierte Sehnsucht nach Rückkehr in die Mutter Kind Einheit. Eine Rückkehr, die aber seine Subjektivität zerstören würde, weil er fürchtet, im weiblichen Körper zu verschwinden. Die Abwehr dieser Urangst erfolgt über die gegen Frauen gerichtete Aggression bzw. den Versuch Macht, Gewalt und Kontrolle über sie auszuüben. Konkret ist die Angst vor der Sexualität der Frau bei Männern unterschiedlich ausgeprägt, je nach dem, welche Bewältigungsmechanismen, sie erworben haben und wie weit die Kultur sie dabei unterstützt. Denn auf weite Strecken ist die kulturell verankerte, aggressive Erniedrigung und Unterdrückung der Frau darauf zurückzuführen, sie und ihre Lust unter Kontrolle zu halten. Denken sie nur an die nach wie vor weitverbreitete Genitalverstümmelung, die neben der besonderen Grausamkeit an kleinen Mädchen, für die erwachsenen Frau, jede sexuelle Lusterfahrung ausschließt. Denken sie an Steinigungen oder Auspeitschung von Ehebrecherinnen oder Vergewaltigungsopfern. Hier wird öffentlich vorgeführt welcher dämonisch verführerischen Gefahr der Mann offenbar durch die Frau ausgesetzt ist. Sie wird dafür verantwortlich gemacht, dass er seinen Trieb an ihr auslebt. Der Hass auf die Frau drückt sich aber genauso in unserem Kulturkreis durch gesellschaftliche Diskriminierung aus. Von Machtpositionen sind Frauen nach wie vor fast immer ausgeschlossen. (Von rühmlichen Ausnahmen wie Frau Merkel, etc. abgesehen.) Da können Sie in der Kirche ja ein Lied davon singen.
Kommen wir zu den Tätern in unserem Kulturkreis zurück.
TÄTERPROFILE
Täterprofile sind statistische Annäherungen, um Ähnlichkeiten herauszustellen, die bei einer Vielzahl von untersuchten Kriminalfällen der gleichen Tätergruppe festgestellt werden. Damit ergibt sich eine über den Einzelfall hinausgehende Beschreibung einer Tätergruppe. Die österreichische Bewährungshilfe hat vor über 10 Jahren eine Studie (VBSA-Projekt, Sexualtäter und Gewalttäter in der Familie, 2000, VBSA Wien) über gerichtlich verurteilte Sexualstraftäter erstellt, die damals von Bewährungshelfern betreut wurden. Ich möchte ihnen die dort herausgearbeiteten Befunde vorstellen und beschränke mich dabei aber auf die Gruppe der Missbrauchstäter. Das waren 152 Personen. Wie schon gesagt unterscheiden wir hier die Täter im Familienkreis, die wir Inzesttäter nennen- das waren 44 Personen – und die pädophilen Täter, die nicht mit dem Opfer verwandt sind – das waren 108 Personen. Interessant ist, dass die Hälfte der Missbrauchstäter auch wegen anderer Delikte – in der Regel Gewalt-und Eigentumsdelikte – Verurteilungen aufwiesen. Wir können bei diesen also von einer gewissen Haltlosigkeit und einem allgemeinen Sozialversagen ausgehen, und haben sie als dissoziale Missbrauchstäter bezeichnet. Damit wurde angedeutet, dass das Hauptsymptom der Grundstörung die Dissozialität, nicht nur das Sexualdelikt ist. 60% von ihnen hatten unbedingte Haftstrafen zu verbüßen.
Im Gegensatz dazu fällt die andere Hälfte der Missbrauchstäter höchstens durch wiederholte, einschlägige Sexualdelikte auf, sind aber sonst sozial angepasst. Ihre Taten sind ausschließlich psychosexuell motiviert. 36% von ihnen wurden zu einer unbedingten Gefängnisstrafe verurteilt, der Rest bedingt, häufig mit Weisung zur Psychotherapie.
Von den 44 Inzesttätern unseres Samples waren gut die Hälfte Väter und Stiefväter, bzw. Lebenspartner der Mutter. Der Rest vor allem leibliche Brüder, Onkeln und Cousins. Sie vergingen sich zu 89 Prozent an Mädchen. Buben als Missbrauchsopfer in der Familie sind also sehr selten. 60% der Opfer sind zwischen 10 und 14 Jahren, 30% zwischen 5 und 9, 10% unter 4 Jahren. Die Inzesttäter stellen die Gruppe mit der größten Dunkelziffer dar, weil die Tat ausschließlich im Familienkreis begangen wird und es kaum Tatzeugen oder Sachbeweise gibt. Der Missbrauch kann unentdeckt bereits über Jahre erfolgt sein, aber es liegt keine Vorstrafe vor.
Bei den Inzesttätern findet sich überwiegend der „regressive Missbrauchstäter“, er versucht seine unbefriedigend und konflikthaft gewordenen Sexualbeziehungen zu Erwachsenen regressiv mit Beziehungen zu Kindern zu ersetzen. Die Tochter wird an die Stelle der erwachsenen Frau gesetzt. Sie wird als Gleichaltrige anstatt als Kind betrachtet. Hier spielt die Familiendynamik eine wichtige Rolle. Oft ist die Tat auch zusätzlich ein verdeckter Racheakt gegenüber der als dominant erlebten Mutter des Kindes. In der Regel wird keine körperliche sondern psychische Gewalt unter Ausnützung des Autoritätsverhältnisses und des Missbrauchs des Vetrauens des Kindes angewendet.
Inzesttäter umgehen ihr schwaches männliches Selbstwertgefühl und die Angst vor erwachsenen Frauen. Die Konfrontation mit dem kindlichen Genitale lässt sie sich genital vollwertig fühlen und mindert ihre Männlichkeitszweifel. Der Inzesttäter weist in der Regel keine sexuelle Fixierung auf Kinder auf sondern benutzt sie als Ersatzobjekte für die eigentlich gewünschte sexuelle Beziehung zu einem altersentsprechenden Partner. Die dissozialen Inzesttäter vom Typ Familientyrann neigen wegen ihrer mangelhaften Impulskontrolle zu aggressiven Triebdurchbrüchen. Sie nehmen sich einfach das, was sie nicht bekommen, und sei es auch mit Einschüchterung, Gewalt und unter Alkoholeinfluss. Dabei spielt die Aggressionsproblematik neben Männlichkeitsängsten eine große Rolle. Das Alters- und Machtgefälle zu den Opfern ist zentraler Bestandteil der Befriedigung, die im intensiven Erleben von Potenz und Männlichkeit sowie aggressiver Erniedrigung der Frau besteht. Innerhalb der Familie ist das inzestuöse Geschehen meist schon bekannt, wird aber durch Einschüchterung und Drohung lange nicht angezeigt. Z.B.von der Art„bring mich nur ins Gefängnis, du wirst schon sehen wer dann das Geld nach Hause bringt“.
Die Gruppe der Pädophilen umfasste 108 Personen. Sie stellen jene Missbraucher dar, die keine familiäre Beziehung zum Opfer haben. Knapp die Hälfte von ihnen stand aber mit dem Opfer in einer engeren und längeren Bekanntschaft, in der der Täter eine „Beziehung“ mit dem Opfer aufgebaut hat, und es immer mehr einkreist. Experten sprechen hier auch von einem Missbrauchszyklus, der damit beginnt, dass sich der Täter sein Opfer in Gedanken aussucht und es in seinen sexuellen Phantasien zur Erregung benutzt, bis er dann mit ihm real Kontakt aufnimmt und durch Manipulation dazu bringt, seine Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen.
60% der Opfer sind Mädchen, 30% Buben, 10% der Pädophilen haben männliche und weibliche Opfer. Hier sind also Buben mehr gefährdet als durch Inzestdelikte. Die Altersverteilung der Opfer ist bei Pädophilen ähnlich wie bei den Inzesttätern (60% sind 10-14J., 35% 5-9J., 5% unter 5 Jahren.)
Sie haben aber deutlich höhere Opferzahlen als bei den Inzesttätern. Ein Großteil von ihnen hat bis zu drei Kinder missbraucht.
Pädophile sind häufig ausschließlich auf Kinder fixiert. Sie tendieren dazu ihr Verhalten und ihre Interessen dem Niveau des Kindes anzupassen, mit der Absicht, dass das Kind sie als seinesgleichen akzeptiert. Sie identifizieren sich mit dem Kind und wünschen selbst noch ein Kind zu bleiben. „Das zentrale pädophile Erleben ist, dass die Welt des Kindes der des Pädophilen angemessen ist. In ihr kann er sich frei von ängstigenden Erwartungen bewegen.“ (Schorsch, E.1985, Perversion als Straftat) Überwiegend finden wir hier den intelligenten, phantasiebegabten, emotional gesteuerten, kontaktbereiten, extravertierten Typ mit vielseitigen Aktivitäten, der zu Kindern sehr leicht Zugang findet, weil er es versteht, sich in die Welt des Kindes zu versetzen. Darunter fallen auch jene leidenschaftlich für Kinder oder in der Jugendarbeit engagierten Kinderbetreuer, Jugendführer, Geistliche oder Lehrer, die im Rahmen ihrer pädagogischen Tätigkeit straffällig werden.
In der pädophilen Situation geht es um den Versuch, die verlorengegangene, sehnsuchtsvoll erinnerte, liebevolle Beziehung zur allmächtigen Mutter wiederherzustellen, die ihm verloren ging. In der perversen Inszenierung erkennt sich der Pädophile in dem Kind wieder, dem er sich als allmächtige Mutter zuwendet. Die pädophilen Handlungen dieser Täter weisen darauf hin, dass es hier weniger um Demonstration von Macht und Potenz, sondern vorrangig um eine Flucht in die kindliche Welt geht. Trotzdem ist Macht hier ein ganz zentraler Faktor wenn es um Autoritätsverhältnisse geht. Die Täter rechtfertigen den Missbrauch des kindlichen Vertrauens damit, dass sie nur deren Hunger nach Liebe und Zärtlickeit gestillt hätten. Obwohl sie den Kindern die Sexualisierung der Beziehung aufdrängen, geben sie sich der Illusion hin, dass die Kinder die sexuellen Handlungen als Liebesbeweis genießen würden.
In der Konfrontation mit ihrer Tat, zB in einer Therapie, sind solche Täter zwar bereit die Verantwortung zu übernehmen und sie als Ausdruck ihrer eigenen sexuelle Orientierung zu erklären. Gleichzeitig besteht kaum eine Schuldeinsicht, weil der Umstand, dass das Kind durch die Tat Schaden erlitten hat, meist hartnäckig verleugnet wird. Als Opfer sind gerade Kinder denen es an Liebe und Zuwendung mangelt prädestiniert.
Bei den dissozialen Pädophilen fallen auch sozial randständige zu Alkoholexzessen neigende Gewalttäter – oft ehemalige Heimkinder – an, die sich an Kindern vergreifen, weil sie sonst keine sozialen Beziehungen haben oder Sexualität mit einer erwachsenen Frau mangels Selbstvertrauen und sozialer Kompetenz für sie unerreichbar erscheint. Typische Tatorte sind etwa Spielplätze oder Umkleidekabinen im Schwimmbad.
Ein Fallbeispiel: Ein vierzigjähriger Patient, teilt mir im zweiten Jahr seiner Analyse einen sehr beschämenden Vorfall aus seiner Kindheit mit, den er seither mit sich herumträgt und noch nie jemanden erzählt hat. Als Siebenjähriger wäre er gemeinsam mit seinem Bruder von seinen Eltern auf ein kirchliches Ferienlager geschickt worden. Um sich die lange Anfahrt zu ersparen hätten sie die Eltern schon am Abend vor der gemeinsamen Abreise direkt zu dem Pfarrer in eine nahe Kleinstadt gebracht, wo sie die Nacht nur zu zweit in einem großen Schlafsaal verbracht hätten. In der Nacht wäre er plötzlich sehr erregt erwacht. Die Erregung ging von seinem Penis aus, der von einer fremden Hand gehalten und massiert wurde. Er bemerkte den Pfarrer, der an seinem Bett saß und seine Hand unter seiner Bettdecke hatte. Nach dem ersten Schrecken löste er sich aus seiner Erstarrung und entzog sich dem „Angreifer“, der rasch von ihm abgelassen hätte. Er hätte sich nicht getraut, diesen Vorfall seinen Eltern zu erzählen, weil die so etwas nicht für möglich gehalten hätten. Der Patient weint in der Stunde vor Scham und Wut, und nicht nur in dieser Stunde sondern noch lange, wenn seine Gedanken wieder auf diese traumatische Kindheitsszene stoßen. Schließlich entscheidet er sich die Ombudsstelle der Diözese zu kontaktieren. Ihm ist es nur wichtig den Täter, der gut 30 Jahre danach noch am Leben ist mit der Abscheulichkeit seines Missbrauchs und seiner Wut zu konfrontieren.
TÄTERTHERAPIE
Psychotherapie und Täterprogramme wirken erwiesenermaßen präventiv und senken die Rückfallwahrscheinlichkeit signifikant. Die Prognose ist höchst unterschiedlich und hängt von den Faktoren Alter (je jünger desto schlechter – außer man diagnostiziert es als Entwicklungsstörung), Dauer und Häufigkeit, Fähigkeit zur Selbstkontrolle, aber auch soziale Integration ab. Im Schnitt geht man von einer Rückfallprognose von 10% bei unbehandelten und von 5% bei behandelten Tätern bei einem Beobachtungszeitraum von 10 Jahren aus. Inzesttäter haben eine bessere Prognose als Pädophile.
Da Verharmlosung des Delikts und Bagatellisierung der Schuld zum Standardrepertoir von Missbrauchern gehört, ist zuerst die Konfrontation mit der Tat und den Tatfolgen notwendig. Ziel der Therapie ist, dass der Täter die Verantwortung für die Tat übernimmt und Empathie für das Opfer aufbringt. Meist kommen Täter über gerichtliche Weisung nach bedingter Entlassung oder bei bedingter Strafnachsicht in Behandlung. Nur selten wirklich freiwillig.
Versuchen wir nochmals zusammenzufassen, welche psychosexuellen und kulturellen Faktoren die Ausbildung einer sexuellen Störung insbesondere einer Perversion begünstigen:
- Die Tatsache allein, dass der Trieb autoerotisch ist kann dazu führen, dass man sich überhaupt nur mit Masturbation begnügt. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass man sich um den Anderen als liebevollen Sexualpartner gar nicht mehr bemüht und Sexualität nicht mehr in einem realen Beziehungskontext eingebettet ist, weil Beziehungspflege einfach auch anstrengend ist. Stichwort Cybersex.
- Um sich auf den anderen einzulassen muss man das Risiko der Zurückweisung auf sich nehmen. Männer mit geringem Selbstwert oder aufgeblähtem falschen Selbst können solche Kränkungen nicht riskieren und versuchen die Frau aus einer Machtposition heraus oder manipulativ zum Sex zu zwingen.
- Die „Angst vor der Sexualität der Frau“ wird vom Mann mittels Aggression und Unterdrückung der Frau unter Kontrolle gehalten. Funktioniert das nicht mehr ist die Verführung groß auf Kinder als Sexpartner auszuweichen. Hier sind besonders Mädchen als Opfer gefährdet. Die Spaltung der Frau in Madonna und Hure kommt auch gegenüber dem Kind zum Einsatz.
- Kernpädophile, die die ausschließliche Beziehung zu „ihrem Kind“ suchen, wollen damit die ehemalige Vollkommenheit, die sie (vielleicht durch lebensgeschichtliche Enttäuschungserlebnisse noch verstärkt) im Untergang der symbiotischen-vorsprachlichen Mutter-Kind-Einheit verloren haben wiedergewinnen.
- Durch den historisch bedingten Zerfall der patriarchalischen Gesellschaften lösen sich die tradierten, streng aufgeteilten Geschlechtsrollen, und Verhaltenskodizes auf und es setzt sich ein perverses Über-Ich durch: statt dass es die Lust einschränkt, macht es diese zum absoluten Gebot
Unsere Mediengesellschaft hat sich dem totalen Konsum – auch dem des Sexuellen – verschrieben. (Berlusconi läßt grüßen.)
Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller, (Unglück der Sucht-wie sie ihre Abhängikeiten besiegen, 2007) stellt fest:
„Der Sexsüchtige ist auf ständiger Jagd nach verstärkter sexueller Stimulation, nach ungewöhnlichen Praktiken, nach einem „Kick“, der meist jedoch nicht wirklich befriedigt. 60 Prozent aller Webseitenbesuche sind sexueller Natur. 40 Prozent aller Internetangebote enthalten pornografische Inhalte. 74 Prozent aller Einnahmen im Internet werden durch Sexangebote gemacht. 25 Millionen Menschen surfen pro Woche auf einer Pornoseite.“
Die neuen Formen pädophiler Perversion wie der sich verbreitende Konsum von Kinderpornografie im Internet verweisen auf ein hohes Potential latent pädosexuell
orientierter Männer.
Wenn sich die Generationengrenze auflöst, die Inzestschranke aufgehoben und die Geschlechterdifferenz verleugnet wird führt das zur Perversion.
Das Strafrecht allein wird wohl nicht ausreichen um diese anthropologischen Grundkonstanten auch in einer postmodernen Gesellschaft zu gewährleisten?