Vortrag: „Ich habe meine Mama verloren!“

Symptombildung im Zeichen von Separation, Triangulierung und Ödipuskomplex.

Vortrag im Arbeitskreis für Psychoanalyse Linz/Graz, Sektion Linz, am 15.5.2013

Als ich die zweieinhalbjährige Yara vom Kindergarten abhole und sie hochnehme, beginnt sie zu schluchzen, kuschelt sich trostsuchend an mich und beruhigt sich dann schnell wieder. Auf meinen fragenden Blick meint die Kindergärtnerin, dass sie in den letzten Tagen schon öfter so angerührt wäre. Gemeinsam mit ihrem um zwei Jahre älteren Bruder machen wir heute Opaprogramm – einen Tiergartenbesuch in Schönbrunn. Yara braucht seit zwei Wochen keine Windeln mehr, muss jetzt auch auf die Bequemlichkeit des Gefahrenwerdens im Wagerl verzichten und sich auf selbständiges Gehen umstellen. Das bringt einige Veränderungen mit sich: Z.B darf sie jetzt in der Straßenbahn – so wie der ältere Bruder auch – auf einem eigenen Sitzplatz sitzen, kann die Knöpfe der Türautomatik drücken, muss Rolltreppenfahren lernen und natürlich auch weitere Strecken zu Fuß gehen. Am Heimweg vom Tiergarten ist sie vom Gehen schon recht müde und weinerlich. Sie will getragen werden – wird sie auch ein Stück auf den Schultern, was ihr wieder Spaß macht – dann protestiert sie gegen das Herabgenommen werden, schluchzt wieder leise aber deutlich vor sich hin, es hat ein wenig was theatralisches, ich halte mit tröstenden Worten dagegen, gleich sind wir ja zu Hause. Hier vertieft sie sich ins Puzzlespielen. Wendet sich schnell einmal verzweifelt an mich, weil sie gerade ein passendes Teil nicht finden kann. Dann sitzen wir beim Essen. Jetzt lässt sie die Katze aus dem Sack: „Opa, ich bin so traurig. Ich bin so traurig, weil ich meine Mama verloren habe“. Verblüfft schau ich sie an und sage: aber die Mama kommt doch gleich nach Hause. „ Ich bin aber traurig, ich hab meine Mama verloren.“ Endlich dämmert es mir, dass sie wohl nicht die Mama meint, die bald bei der Tür hereinkommen wird, sondern die, die ihr bis vor kurzem die Windeln gewechselt hat, die sie im Kinderwagen herumgeführt hat, die sie wortlos verstanden hat. Die hat sie ja tatsächlich verloren, weil sie aus dem Stadium herausgewachsen ist, wo sie die Mutter in dieser Weise braucht. Sie kann jetzt ihre Gefühle teilweise schon selbst benennen und eine Erklärung dafür finden.

Drei Wochen später – wir sind wieder zu dritt – sagt sie so nebenbei und etwas belustigt, als ob sie sich einen Spaß macht: „Ich hab jetzt die Mama im Kopf und meinen Bruder im Bauch.“ „Aber ich bin doch schon viel früher herausgekommen,“ meint Nelson erschrocken. (Sie hat zwischen ihm und ihr eine Ordnung hergestellt indem sie von ihm als „meinen Bruder“ spricht und ihn damit von seinem Namen „Nelson“ abstrahiert.) Welchen Vorgang symbolisiert sie, wenn sie sagt, sie hat die Mama im Kopf? Meint sie, dass sie die Mutter als stabiles, abgegrenztes Objekt verinnerlicht hat? Meint sie, dass sie mit der Mutter identifizert ist? Dass Muttersein heißt, ein Kind im Bauch zu haben und sei es den eigenen Bruder? Besser als von der Mutter geschluckt zu werden und selbst in ihrem Bauch zu landen? Ist es eine Abwehr des regressiven Wunsches nach dem Zurückdrehen der Zeit und Rückkehr in die Dualunion mit der Mutter, der die Gefahr der Auflösung der gerade erworbenen Individuation in sich trägt,bzw. des eigenen Verschwindens in der Mutter?

Margaret Mahler (1975) siedelt den primären Prozess der Separation zwischen den 5. und 36. Lebensmonat an. Sie spricht von der psychischen Geburt des Menschen.

Die symbiotische Phase beginnt etwa mit dem zweiten Lebensmonat. In dieser Phase erlebt das Kind sich und seine Mutter als untrennbare Einheit. Das Kind kann in dieser Zeit noch nicht zwischen Innen und Außen, Selbst und Nicht-Selbst sowie Kind und Mutter unterscheiden. Das Kind inkorporiert die Mutter, zuerst durch Lächeln. Es spiegelt sich im Glanz der Augen der Mutter, sagt Winnicott. Die emotionale Einfühlung der Mutter ist zur angemessenen Entwicklung eines basalen Sicherheitsgefühls und Urvertrauens sehr wichtig. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist die Basis für alle späteren Beziehungen. In der Loslösungsphase (vom 6. bis zum 12. LM) erlebt sich das Kind durch die Entwicklung des Körperschemas und der motorischen Fähigkeiten schon bald von der Mutter körperlich getrennt. Die psychische Trennung ist mit mehr Übungsaufwand – Mahler spricht von der Übungsphase und der Wiederannäherungsphase – in Richtung emotionaler Autonomie verbunden. In einer emotionalen Karusselfahrt zwischen Omnipotenz- und Ohnmachtsgefühlen, Trennungs- und Verschmelzungsängsten werden mit Hilfe von Übergangsobjekten, Identifikationen und den rasant sich entwickelnden Ichfunktionen – vor allem der Sprachaneignung – bis zum 2. Lebensjahr die Grundlagen der Individuation gelegt. Nach Mahler wird die Festigung der Individualität und einer emotionalen Objektkonstanz zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr erreicht. Die Spaltung gute/ böse Mutter kann zugunsten eines überwiegend positiven ganzheitlichen Mutterbildes aufgegeben werden. Das Kind lernt zu akzeptieren, dass andere Objekte nicht narzisstische Selbstobjekte, sondern eigenständige, getrennte Realobjekte sind. Im positiven Fall gelingt die Entwicklung eines realistischen Selbst- und Elternbildes sowie die Ausbildung konstanter Selbst- und Objektrepräsentanzen.

Die Konflikte um Separation und Individuation kreisen um die kindliche Abhängigkeit, Hilflosigkeit und das Bedrohtsein durch Verlassen werden oder durch intrusive Überwältigung. Ute Rupprecht-Schampera (1997) betont, dass Mahler mit Separation und Individuation mehr meint, als das Heraustreten aus der Symbiose oder die Wahrnehmung von Ich und Du als zwei unterschiedliche Wesen. „Es geht vielmehr um die Herausbildung einer inneren Sicherheit, dass Unterschiedlich-Sein und Unterschiedlich-Handeln trotz und innerhalb einer engen gefühlsmäßigen Verbundenheit mit dem Objekt möglich ist und dass es (hoffentlich) nicht zum Objektverlust oder zur Vernichtung des Selbst führt. Dies bezieht sich besonders auf das Erleben des eigenen Körpers, auf das Empfinden von Gefühlen, auf den Erwerb eigener stabiler Handlungsmöglichkeiten sowie einer eigenen sexuellen Identität.“ (S.641) Wenn eine solche innere Sicherheit nicht entwickelt werden konnte fühlt sich das Subjekt ständig von Objektverlust und Selbstvernichtung bedroht. Die Abwehr dieser Angst erfolgt meist durch eine Regression in die Symbiose, indem zeitlebens eine übergroße Übereinstimmung mit dem Objekt gesucht und aufrechterhalten wird und dem Objekt widerstrebende Interessen und Fähigkeiten nur stark angst- bzw. schuldbesetzt nachgegangen wird oder diese überhaupt unterdrückt werden. Dort, wo der Prozess der Separation nachhaltig belastet oder gestört ist, wird das Thema der Loslösung und Trennung immer wieder als eine nichtbewältigte Entwicklungsaufgabe im weiteren Leben auftauchen.

Ernst Abelin stellte 1971 das Konzept der „frühen Triangulierung“ vor, das – wie auch bei Mahler – von einer dyadischen Frühbeziehung zur Mutter, als erster und bedeutungsvollster Bezugsperson, ausgeht, von der das Kind, angetrieben durch die biologische Reifung, zur Verselbständigung wegdrängt. Der Vater wird Abelin zufolge vom Kleinkind „ersehnt“, um sich von ihm die Welt außerhalb des mütterlichen Bereiches zeigen und erschließen zu lassen. Ist die Beziehung mit der Mutter gerade einmal zu eng oder zu enttäuschend, so bekommt der Vater die Position des „Dritten“, der eine Distanz ermöglicht, ohne dass die Mutter endgültig verlassen werden muss. Mit Hilfe des Vaters kann das Kind im günstigsten Fall lernen, dass die Loslösung von der Mutter nicht illoyal ist, nicht das Fallen ins Nichts bedeutet, und dass ambivalente und aggressive Gefühle gegenüber der Mutter erlaubt sind. Der Dritte (der Vater) hilft also dem Kind, über die Abhängigkeit zum dyadischen Partner – der Mutter – hinwegzukommen. So kann es die gegensätzlichen Gefühle von Liebe und Aggression gleichzeitig bestehen lassen und ertragen lernen. Für Abelin setzt die „frühe Triangulierung“ im Trennungs-und Individuationsprozess der frühen Kindheit etwa mit dem 18. Lebensmonat ein und geht damit der ödipalen Phase voraus. Er versteht darunter die Erweiterung der Dyade zur triadischen sozialen Beziehung, ohne dass dabei – wie bei der späteren ödipalen Triangulierung – sexuelle Inhalte und Rivalität eine größere Rolle spielen. Indem der Vater dem Kind als triangulierender Dritter zur Verfügung steht, hilft er ihm, den symbiotischen Konflikt mit der Mutter zu lösen und bereitet den Weg für die Ablösung und Individuation vor. Er verkörpert geradewegs die Möglichkeit des Getrenntseins. In der „frühen Triangulierung“ macht das Kind aber auch eine prototypische Erfahrung, die zugleich traumatisch und strukturbildend ist, indem es die Beziehung zwischen Vater und Mutter begreifen und verinnerlichen muss. Damit wird es ihm erst möglich triadische Beziehungsstrukturen wahrzunehmen und schließlich eine psychische Repräsentanz triadischer Strukturen entwickeln zu können.

Frank Dammasch (2008) bringt es prägnant auf den Punkt. „Triangulierung bezeichnet hier die Entwicklungsaufgabe des Kindes (aber auch der Eltern), aus dem äußeren Beziehungsdreieck ein inneres zu machen: Das Kind internalisiert seine Beziehung zu den wichtigsten primären Bezugspersonen bereits lange vor der späteren „ödipalen Triangulierung“. Ein Prozess, der für die Entwicklung stabiler Selbst- und Objektrepräsentanzen, sowie für die Entwicklung des Denkens und Phantasierens in einem inneren Raum entscheidend ist.

R.-Sch. führt aus, dass Lacan, Green aber auch implizit schon Melanie Klein davon ausgehen, dass die Fähigkeiten zur Triangulierung angeboren seien und bereits mit der Geburt einsetzen. „Das sogenannte dritte Element wäre also von Geburt an im psychischen Leben des Kindes vorhanden. Green betont, es sei nicht nur, »wie Winnicott sagt, kein Säugling ohne seine Mutter denkbar, sondern auch kein solches durch Mutter und Kind gebildetes Paar ohne einen Vater. Denn das Kind repräsentiert die Vereinigung von Mutter und Vater«.
Stern belegt (1983) eindrucksvoll, daß der Säugling bereits kurz nach der Geburt in der Lage ist, zwischen sich und dem Anderen zu differenzieren, was den Schluß zuläßt, daß es bei einem gesunden Neugeborenen eine »symbiotische Phase« im Sinne Mahlers gar nicht geben kann. Nach vielen neueren Untersuchungen (z.B. Lichtenberg, 1983) ist es naheliegend anzunehmen, daß bei der Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich bereits für das kleine Kind das Prinzip des Dritten wirksam wird, daß also trianguläre Strukturen in seinem Wahrnehmen und Denken, wenn auch noch so rudimentär, von Anfang an vorhanden sind.“ Und sie stellt die Frage: “Ist die Verfügbarkeit eines realen Vaters als eines »Dritten« und die spezifische Interaktion mit ihm für die spätere psychische Entwicklung eines Kindes dann tatsächlich noch so bedeutsam, wie es das Konzept der »frühen Triangulierung« nahelegt? Was genau kann »frühe Triangulierung« dann überhaupt bedeuten?“
(S.642)

Bezugnehmend auf  F. Dammasch  schlage ich vor die Symbolische Triangulierung von der Frühen Triangulierung im Sinne Abelins zu unterscheiden. Das eine ist ein strukturelles Konzept, das andere ein Entwicklungskonzept.  Für die Erfahrungen des Kindes mit der Welt und mit seinen eigenen Emotionen, also seinen Ängsten, Frustrationen und Unlusterlebnissen steht jeder Elternteil Mutter oder Vater als ein triangulärer Partner- also als Dritter – zur Verfügung, wenn er tröstet, erklärt, vermittelt, Überblick verschafft – kurz gesagt Hilfs-Ich-Funktionen wahrnimmt. Mentalisierung ist hier das Stichwort: Die Eltern geben dem Kind markiertes und kontingentes Feedback, wenn es von Angstgefühlen überschwemmt  wird. Sie verarbeiten die Gefühle des Kindes im Sinne eines Containers und geben sie ihm „entgiftet“ zurück. Ein sogenanntes Best Practice Beispiel habe ich einem Artikel von Norman Doidge (2010), entnommen:

„In der kritischen Phase der emotionalen Entwicklung und Bindung zeigt eine Mutter ihrem Kind durch ihren singenden Tonfall und mittels nonverbaler Gesten, was Emotionen sind. Wenn ihr Kind mit der Milch Luft geschluckt hat und schreit, sagt sie beispielsweise: “Ist ja gut meine Süße, du siehst ganz erschrocken aus. Hab keine Angst. Dein Bäuchlein tut weh, weil du so schnell getrunken hast. Komm, ich nehm dich in den Arm, wir machen Bäuerchen und dann ist alles wieder gut.“ Sie nennt dem Kind den Namen der Emotion (Angst), erklärt ihm, daß es einen Auslöser dafür gibt (es hat zu schnell getrunken), daß die Emotion durch seinen Gesichtsausdruck kommuniziert wird (siehst erschrocken aus), daß sie mit einem Körpergefühl einhergeht (dein Bäuchlein tut weh) und vermittelt ihm, daß es manchmal nützlich ist, bei anderen Hilfe zu suchen (Ich nehm dich in den Arm, wir machen Bäuerchen). Die Mutter gibt dem Kind einen Schnellkurs in Sachen Emotion und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit ihrer zärtlichen Sprechmelodie und den tröstenden Gesten und Berührungen.“

Neben dieser symbolisierenden und mentalisierenden Triangulierung geht es bei der der frühen Triangulierung um die Funktion des Vaters für die Mutter-Kind-Beziehung um etwas anderes: Das Kind soll, wenn es sich mit einem Elternteil verstrickt hat und die Objektbeziehung von Wut und Angst gefährdet ist, einen Dritten zur Verfügung haben, der es tröstet und ihm Sicheheit gibt, sodass es innerlich auf Distanz zum Primärobjekt gehen kann und nicht primitive Spaltungsprozesse einsetzen muss, um den drohenden Objektverlust zu verhindern. Hat es diesen Halt durch den Dritten, kann es sich dem Primärobjekt wieder leichter zuwenden. Kleinianisch gesprochen: Es kommt von der paranoid-schizoiden Position damit leichter in die depressive Position. Fällt diese Triangulierungsmöglichkeit durch den zweiten Elternteil (man denkt hier in der Regel wohl an den Vater) als  Hilfsfunktion aus – „egal ob es nun die Mutter oder der Vater ist, der hier emotional nicht präsent ist -, ist das Kind selbst gezwungen, psychische Triangulierungsversuche mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vorzunehmen, um sein psychisches Überleben um jeden Preis zu bewerkstelligen. Wenn auf so früher Stufe massive Abwehrvorgänge für das Kind nötig werden, tragen sie die Merkmale der primitiven psychischen Wahrnehmungsleistungen des Kindes und entsprechen unvollständigen Triaden auf dem Niveau von Teilobjektbeziehungen.“ (R.-Sch.)

Jetzt passiert dann folgendes: „Die bösen Anteile des Selbst und des Objekts werden nach draußen, d. h. auf eine dritte Position projiziert, damit die Illusion einer guten Dyade gelebt werden kann. Auch dies stellt eine primitive Triangulierungsleistung des Kindes dar.“ (R.-Sch. S.643)

Bei diesem Abwehrvorgang, den ich „projektive Triangulierung“ nennen möchte, werden die bösen Anteile also auf einen Dritten projiziert. Das kann eine reale Person oder auch eine Phantasiegestalt sein. Eine Patientin mit einem desinteressierten und ganz an seine eigene Mutter gebundenen Vater fühlte sich von ihrer Mutter völlig vereinnahmt und ihr ausgeliefert. Sie spaltete die verbietenden und strafenden Anteile aus ihrer Mutterbeziehung zuerst an die väterliche Großmutter ab. Wenn die Patientin etwas angestellt hatte, zB. Die Möbel des neuen Kinderzimmers mit Filzstift bemalt hatte, wurde sie von der Mutter einerseits bestraft und gleichzeitig wurde ihr gesagt, dass der Papa das auf keinen Fall erfahren dürfe, weil der dann ganz bös werden würde. Sie, die Mutter, würde sie also vor der Strafe des Vaters beschützen. Daraus bildete die Patientin ein Phantasma von einer Phantasiegestalt aus, einem gnadenlos strafenden Inquisitor , der wie ein Fluch auf ihr lastet. Immer wenn sie als Erwachsene ein autonomes Erleben von Glück und Erfolg hatte, schaltete sich aus dem Off dieser vernichtende, entwertende und strafende Dämon ein, der sie als Dritter ein Leben lang verfolgte.

Eltern möchten die Entwicklung und das Aufwachsen ihrer Kinder oft als glänzende  Erfolgsgeschichte verstehen, wo vom Kind eine Hürde nach der anderen mit Bravour genommen wird. Nach dem Motto: „Das ist ja toll, du kannst schon ohne Stützräder fahren“, etc. Sicher befördert der Weg zu Autonomie und Individuation nicht nur den kindlichen Narzissmus. Dass die Zeit von der Mutter-Kind -Symbiose zur Subjektwerdung aber nicht nur als Triumphmarsch sondern auch als eine Geschichte des Verlusts eines glückseligen Zustands gelesen werden kann soll nicht übersehen werden.

Die noch nicht differenzierte, absolute Einheit zwischen Mutter und Kind zerbricht zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr für immer, was zu einem grundsätzlichen Gefühl eines Mangels führt, der unser ganzes weiteres Leben bestimmen wird. In der Zeit davor stellt diese Einheit eine Geschlossenheit im Sinne von Ausschließlichkeit dar. Mutter und Kind sind in dieser vorsprachlich-symbiotischen Beziehung auch kein getrenntes Wesen; es ist gar nicht vorstellbar, dass sie getrennt voneinander existieren können auch wenn sie sich natürlich in der Realität oft nicht am gleichen Ort aufhalten. Die Ausschließlichkeitsbeziehung der Schwangerschaft wird auch nach der Geburt noch lange Zeit fortgesetzt. „Der Eine ist alles für den anderen“, sagt Paul Verhaeghe (1998), ein belgischer Analytiker, der sich oft auf Lacan bezieht. „Sie drückt eine Vollkommenheit, eine Geschlossenheit aus, die jeden anderen als Fremden, als Außenstehenden deklariert. Jene Person, die am meisten dieses Ausgeschlossensein zu spüren bekommt, ist der Vater, der, obwohl er noch keine wirklichen Vatergefühle aufbringen kann, dennoch zur Überzeugung gelangen muss, Vater zu sein. Er hat nicht nur seine Frau verloren – sie ist nun Mutter – , darüber hinaus steht er außerhalb einer Beziehung, die er kaum versteht.“ Jeder Dritte stellt eine Bedrohung dar. Der Ausschließlichkeitsanspruch liegt nicht nur auf Seiten des Kindes. Auch die Mutter ist nicht davor gefeit, ihr Kind als narzisstischen Besitz zu gebrauchen, das an niemand anderen als an ihr (der Mutter) interessiert zu sein hat. Doch diese Art von umfassender Beziehung ist in ihrer ursprünglichen Form dem Untergang geweiht. Die Einheit ist für immer zerbrochen, weil sich die Sprache dazwischen geschoben hat. Vor der Existenz der Sprache funktionierten die Bedürfnisse automatisch, es herrschte eine Unmittelbarkeit, die keinen Vermittler (Sprache) brauchte. Die Sprache schafft Distanz und Differenz. Die Mutter ist dadurch eine andere geworden. Das Kind verliert nicht seine Mutter sondern seine Einheit mit ihr, die vorsprachliche symbiotische Beziehung. Aber auch das Kind ist durch diese Differenz ein anderes geworden. Es ist ihm jetzt möglich über seine eigene Identität zu reflektieren und sich als eigenständiges Subjekt zu erleben. Obwohl dieser Entwicklungsschritt in die Individuation mit viel Selbstbestätigung erfolgen wird, kann das alles doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die alte Einheit definitiv verloren ging und ein grundsätzliches Gefühl von Mangel deshalb in jedem von uns (mehr oder weniger) weiter existiert. Der Mensch, so Verhaeghe, ist von einem unstillbaren Begehren nach dieser ehemaligen Vollkommenheit begleitet und da die verloren ist, wird das Begehren in alle möglichen Bereiche, vor allem in andere Beziehungen, aber auch in den Konsum verlagert. Ja, man kann sogar sagen, dass aus der Suche nach der verlorenen Liebe die Grundlage der Kultur entstehtAber es wird niemals dieses Begehren befriedigt. Die Sehnsucht nach Wiederherstellung der verlorene Illusion von der Mutter -Kind – Einheit lässt sich an allen Madonnendarstellungen, Maria mit dem Kinde lieb…, demonstrieren und kanalisieren.

Der vorgebliche strukturelle Mangel kann durch eine hinreichend gute Mutter als „gemeines Unglück“ (Freud, 1895) – im Sinne psychischer Normalität – ertragen werden.

Eine schwierige, „entgleiste“ Mutter-Kind-Beziehung wird eine subjektive, traumatisierende Mangelerfahrung bedingen, die ins „hysterische Elend“ führen kann.

Am Beispiel der Genese der weiblichen Hystherie wie sie von Rupprecht – Schampera, (1997), beschrieben wird, kann der Weg der Symptombildung im Zeichen einer misslungenen frühzeitigen ödipalen Triangulierung – wie ich das  nennen möchte – nachgezeichnet werden:

Meine zentrale Überlegung ist, daß das Kind, das später eine hysterische Entwicklung nehmen wird, in einer bereits konflikthaften frühen Mutter-Kind-Beziehung den Vater in seiner triangulierenden Hilfsfunktion nicht ausreichend zur Verfügung hat oder ihn als nicht ausreichend verfügbar erlebt, so daß die Separation von derMutter und damit der ganze Separations-Individuationsvorgang als kaum lösbare Entwicklungsaufgabe erscheint….. ...Ich nehme für meine Hypothesen an, daß das Kind unter dem Separationsdruck versucht, aktiv das Interesse des »entfernten« Vaters zu gewinnen. Eine mögliche und naheliegende Form, den Vater doch noch für sich zu gewinnen, findet das Kind dann, wenn es bemerkt, dass es als erotisch attraktives weibliches Wesen für ihn interessant wird und dass es,wenn es auf diese Weise Beziehungsmodalitäten einer eigentlich »späteren« oder, korrekter gesagt: anderen  Entwicklungsphase, nämlich der ödipalen, verwendet, den Vater auf sich aufmerksam machen kann. Man kann also sagen, das Mädchen verwendet die ödipale Triangulierung, um die präödipale (frühe) Triangulierung und damit die Separation von der Mutter zu erreichen. Oder: Die sexualisierte Beziehungsform zum Vater ist eine progressive Abwehr der bedrohlichen frühen Konfliktsituation mit der Mutter, aus der der eigentliche Angstdruck und der Handlungsbedarf stammen.

Nun ist jedoch eine doppelte Konfliktsituation entstanden, denn das Kind verwickelt sich mit dem Vater verfrüht in ödipale Triebkonflikte, während es noch auf der Suche nach der Lösung eines präödipalen Konflikts ist . Daraus resultiert, wie ich zeigen möchte, ein bestimmtes Verhalten des Kindes (und der späteren hysterischen Frau).

Ich möchte zunächst aber diese ursprüngliche, doppelte Konfliktsituation genauer betrachten, um die innere Verarbeitung durch dasKind und die Ausbildung der verschiedenen Abwehrformationen zu verfolgen:

Als eine erste Abwehrbewegung habe ich bereits die sexualisierte, ödipalisierte

Hinwendung zum Vater beschrieben, die sich gegen die Gefahren aus einer konflikthaften, bedrohlichen Abhängigkeitsbeziehung zur Mutter richtet und die zudem bereits eine Reaktion auf verspürtes Fehlen des Vaters als eines natürlichen dritten Objekts darstellt. Es handelt sich um eine grandiose Abwehr gegen Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Wut und Haß, gegen frühe regressive Wünsche der Mutter gegenüber und gegen frühe negative Selbstbilder aus der ersten Lebenszeit.

Hat das kleine Mädchen diese Lösungsform für sich entdeckt, werden sich, je nach der Reaktion des Vaters, sehr unterschiedliche Konstellationen ergeben: Hat es auch mit seinem erotisiertenWerben bei ihm keinen Erfolg oder erlebt es ihn gar als bedrohlichen Angreifer, wird sich vermutlich keine Hysterie entwickeln. Die Hysterie lebt ja von der – zumindest partiellen – Wirksamkeit des sexualisierten Lösungsversuchs. Das Mädchen wird dann auf andere Konfliktlösungsmodalitäten zurückgeworfen werden, denkbar ist weibliche Homosexualität  oder andere Ausdrucksformen einer regressiven Besetzung einer symbiotischen Beziehungsform mit der Mutter. Einen relativ günstigen Verlauf kann das Geschehen nehmen, wenn das Kind durch sein Werben tatsächlich das vorher vermisste Interesse des Vaters wecken kann und dieser nun in Maßen und mit Gefallen auf das Kind eingeht. Er übernimmt damit nachträglich doch noch ein Stück der Funktion des dritten Objekts. Die gespannte und zunächst bedrohlich geschlossene Beziehungssituation mit der Mutter entschärft sich, die ödipale Entwicklung wird nur in Maßen belastet sein.“ (S.645)

Traumatisierend hingegen kann es sich auswirken, wenn der Vater ebenfalls auf erotisierte Weise auf die kleine Tochter reagiert und mit der erwachsenen Sexualität konfrontiert wird. Dieses aufgeheizte Triebgeschehen löst für das Kind unkontrollierbare Affektstürme aus: Das Mädchen hat den Vater als inzestuöses Objekt gewonnen, was seine Größenphantasien bestätigen mag, aber gleichzeitig kommt es durch die verstärkte ödipale Rivalität mit der Mutter zu schweren Schuldgefühle und Vernichtungsängsten, sodass die bereits ursprünglich belastete Beziehung zu ihr noch weniger tragfähig wird. Weil die schweren Schuld- und Schamgefühle die Integration des Selbst bedrohen, wird das erotisierte Geschehen durch Verdrängung und die Enttäuschung am Vater durch Verleugnung abgewehrt (weil er als idealisierter Helfer versagt hat und damit eine Desillusionierung bezüglich der idealisierten Elternimagines erfolgt ist), aus Angst, hilflos und endgültig der Mutter ausgeliefert zu sein. 

Der Vater wird zu einer Idealfigur, die ständig ersehnt, aber nie erreicht wird. Auch Patientinnen, denen die Enttäuschung an ihrem realen Vater bewußt ist, suchen häufig, fast zwanghaft, nach idealisierten Ersatzvätern. Das Bild der Mutter wird andererseits noch weiter entwertet. Sie wird zu einer Figur, die »an allem schuld« zu sein scheint, die das Mädchen nie loslässt und den Vater nie hergibt. Und R.-Sch. Führt weiter aus:

„Die Hysterikerin hat so eine phantasierte ödipale Szenerie geschaffen, die, oberflächlich gesehen, dem »normalen« Ödipuskonflikt ähnelt, die jedoch das Produkt komplizierter Abwehrbewegungen ist und die sich dafür eignet, die tatsächlichen Traumata mit Mutter und Vater zu verbergen und zu verleugnen. Durch Sexualisierung, Verdrängung, Verleugnung, Veränderung der Wahrnehmung und Modifikation des Selbstbildes (durch Verzicht auf Individuation und Rückzug auf Kindlichkeit) wird ein labiles, ständig bedrohtes Abwehrsystem geschaffen, das das psychische Funktionieren nur leidlich garantieren kann, weil unter Umständen alle diese Abwehrbewegungen wieder dorthin zurückführen, wo die Hysterikerin sich bedrohlich abhängig von einer übermächtigen Mutter erlebt und sich so ein neurotischer Kreislauf bildet. Unter dem Gewand der »normalen« ödipalen Phantasie, nämlich daß man als Tochter, die den idealen Vater begehrt, diesen ja nie ganz haben kann und daß die Mutter eine Rivalin um diesen Vater ist, verbirgt sich bei der Hysterikerin das Gegenteil: der Vater ist als ödipaler Vater quasi »zu haben gewesen«, aber er war enttäuschend, während unter der scheinbaren ödipalen Rivalität mit der Mutter der bedrohliche Zustand des Ungetrenntseins von ihr persistiert.“

„Strategischer Ödipuskomplex“ nennt Christa Rohde-Dachser (1987) eine solche Dreieckskonstellation (wie die oben dargestellte) in der die Ich-Entwicklung des Kindes nicht mit seiner biologischen Triebreifung Schritt gehalten hat und wo das Kind seinen traumatisch erlebten präödipalen Objektbeziehungen durch eine „Flucht nach vorne“ ins  Ödipale entkommen will. Sie unterscheidet den strategischen Ödipuskomplex vom reifen Ödipuskomplex. „Von einem reifen Ödipuskomplex werde ich immer dann sprechen, wenn sich die ödipale Auseinandersetzung (also die Auseinandersetzung des Kindes mit der sexuell phantasierten Beziehung zwischen den Eltern und der damit verbundenen Erfahrung des Ausgeschlossenseins) in einer voll entfalteten, stabilen triadischen Situation zwischen Individuen ereignet, deren psychisches Entwicklungsniveau den >Angelpunkt< der Entwicklung (Blanck und Blanck, 1979) überschritten hat, sich also auf der Ebene von ganzen, ambivalent erlebbaren Objektbeziehungen bewegt. Ein solcher  Ödipuskomplex ist ein wichtiges Durchgangsstadium der Entwicklung, bei dem das Kind die Identifikationen und psychischen Strukturen erwirbt, die ihm im Laufe seines weiteren Heranwachsens die allmähliche innere und äußere Ablösung von seinen inzestuösen Objekten ermöglichen.“ (Rohde-Dachser)

Meines Erachtens sind Identifikationen vor allem dann strukturbildend und ichstärkend wenn sie in Situationen erworben werden, in denen es um Angstbewältigung beim Eingehen eines Wagnisses geht. Dazu ein Beispiel:

Der fünfjährige Jens verbringt mit seinen Eltern eine Urlaubswoche in Sizilien. Das Meer ist zwar noch nicht wirklich warm, verleitet aber zum Schwimmen. Jens steht bewaffnet mit Schwimmflügeln, Tauchermaske und Schnorchel am Strand. Die Mutter steigt mutig als erste ins Wasser und versichert, dass es gar nicht mehr so kalt wäre, wenn man einige Zeit im Wasser ist. Der Vater folgt ihr und wendet sich zu Jens, der die Eltern skeptisch vom Ufer beobachtet. „Komm, lass uns zu Mammi schwimmen.“ „Ich will aber zur Klippe“ – weiter draussen. Er steigt vorsichtig bis knapp über die Knöchel ins Wasser. Der Vater möchte ihn weiter hineinziehen. „Ich muss noch warten, mir ist noch kalt in meinen Beinen “, sagt er widerstrebend. Der Vater möchte nicht mehr länger warten, er zieht Jens an sich, der nun bis zum Bauch im Wasser ist und protestierend schreit: „Nein, ich will nicht, ich möchte raus.“ Beruhigungs- und Ermutigungsversuche des Vaters sowie Festhalten und im Wasser Hin- und Herziehen können den immer stärker angstvoll zappelnden und schreienden Jens nicht überzeugen, sodass der Vater ihn wieder ans Ufer bringt. „Setz dich unter unseren Sonnenschirm und bleib dort bis wir wieder da sind.“ Sagts und schwimmt gemeinsam mit seiner Frau zur Klippe. Jens blickt ihnen mürrisch nach, die Kastrationsangst klingt allmählich ab, jetzt sitzt er allein da, scheint nachzudenken. Nach zwei Minuten ruft er seinem Vater zu: „Pappi, ich möchte auf deinem Rücken schwimmen.“ Pappi kommt ans Ufer zurück, Jens gleitet vorsichtig auf den Rücken seines im Wasser liegenden Vaters, der mit ihm zur Klippe schwimmt.

Folgen wir Rohde-Dachser dann entwickelt sich ein reifer Ödipuskomplex nur innerhalb einer vollständigen Triade. Darunter versteht sie eine Dreieckskonstellation, wo die drei Pole der Struktur – nämlich Mutter Vater und Kind – klar voneinander differenziert sind, sich also als voneinander getrennte Individuen wahrnehmen und erleben und zwischen ihnen reziproke Beziehungen bestehen. Dabei ist es wichtig, dass alle Beteiligten diese Situation billigen und alle drei Relationen des Dreiecks bei ihnen mental repräsentiert sind. D.h. A macht sich eine Phantasie über die ihn temporär ausschließende Teilbeziehung von B und C, ebenso B zu A/C und C zu A/B. Ein reifer Ödipuskomplex wäre dann gegeben, wenn das Kind innerhalb einer solchen Triade die Beziehung zwischen den Eltern (also den gegenüberliegenden Polen des Dreiecks) wahrnimmt und in der Weise sexuell thematisiert, dass es diese elterliche Beziehung  mit dem Geschlechts- und Generationenunterschied in Verbindung bringt. Das wäre dann eine sogenannte Urszenenphantasie, also Vermutungen und Phantasien darüber, was sich im Schlafzimmer der Eltern eigentlich abspielt, wenn das Kind nicht dabei ist. Die Phantasien werden von heftigen Gefühlen der Enttäuschung gegenüber dem inzestuösen Objekt oder die Angst um die Mutter wenn der sexuelle Akt als Kampf gedeutet wird, Wut über den Verrat und Hass auf den/die ödipale/n Rivalen/in begleitet.

Michael Ehrmann (1985) ist der Auffassung, dass die Verinnerlichung der ödipalen Erfahrung einer stabilen und liebevollen Beziehung zwischen den Eltern oft nicht oder erst mit Abschluss der Triangulierungsdynamik und mit dem Ödipuskomplex gelingt. Je brüchiger das Dreieck an dieser Stelle ist, desto leichter fällt es dem Kind die Urszenenphantasie zu verleugnen und in seinem narzisstischen Universum zu verbleiben. Von hier aus kann es sozusagen sternförmig dyadische Beziehungen zu vielen unterschiedlichen Objekten aufnehmen, ohne sich einer eigentlichen ödipalen Erfahrung zu stellen. 

Bela Grunberger (1971) hat den Begriff der „narzisstischen Triade“ geprägt, bei der es nicht darum geht einen Elternteil zu lieben und den anderen zu hassen, sondern von beiden Eltern gleichzeitig auf eine narzisstische Weise  vorbehaltlos , konfliktlos und bis zur Verschmelzung hin geliebt zu werden. Dass das Unbewußte davon eine Vorstellung besitzt, wird im christlichen Dogma der Heiligen Dreifaltigkeit aber auch im Bild der Heiligen Familie deutlich: Das Gotteskind erscheint als strahlendes Zentrum des Universums. Es ist von seinen Eltern umgeben, deren Gestalten sich mit denen der Haustiere, Esel und Ochs vermischen, archaischen Bildern, die der Sehnsucht des Menschen nach seinem verlorenen Paradies gelten. Das Kind wird vergöttlicht, von allen angebetet, und die Großen der Erde überhäufen es mit Geschenken – einem hohen Maß an narzisstischer Zufuhr.   Ödipaler Rivale – dieser Josef der „Nährvater“ – dass ich nicht lache.

Bernd Nissen (2013) greift das Konzept der Urphantasie von Freud auf. Das sind „Schemata, die wie philosophische Kategorien die Unterbringung der Lebenseindrücke besorgen“ (Freud, 1918). Die Universalität dieser Phantasien erklärt Freud durch die Tatsache, dass sie phylogenetisch übermittelt sind. Erlebnisse die nicht einordenbar sind werden in der Phantasie umgearbeitet, sodass sie sich in das Schema der Urphantasie einfügen.

„Wir können oft bemerken, dass das Schema über das individuelle Erleben siegt.“

Die Urphantasie übt auf alles eine Anziehung aus, was sich mit ihr in Verbindung setzen lässt. Die ödipale Urphantasie nimmt eine zentrale Stellung ein, weil durch sie psychosexuelle und feindselige Strebungen eine erste spezifische Bündelung erfahren und weil diese Urphantasie auf ödipale Realisierungen trifft, sodass die Präkonzeption (im Sinne Bions) zur Konzeption werden kann. Nissen bringt ein Beispiel, wo die ödipale Präkonzeption auf eine Realisierung trifft, die defacto eine Missrealisierung ist. Eine Patientin erzählt ihm diese Geschichte im zweiten Vorgespräch:

„Lassen Sie uns zwei Situationen anschauen, eine, wie ich meine, benigne und eine maligne Realisierung. Dass sie sich so ähnlich sind, ist glückliche Fügung.

Die erste ist eine Beobachtung: Es soll Gartenarbeit gemacht werden, Vater, Mutter und Kind wollen die Aufgaben besprechen. Das ca. 5 Jahre alte Mädchen hält die Hand des Vaters, steht dicht bei ihm und sagt an die ca. zwei Meter entfernte Mutter gerichtet, den Kopf leicht schräg haltend, die Augen, dreiviertel geschlossen, beim Sprechen sich öffnend, mit spürbarer Überheblichkeit: „Das machen Papa und ich alleine“. Der Mutter löst sich sichtbar der Unterkiefer, die Lippen öffnen sich leicht und scharfe Zurechtweisung will spontan entweichen. Der Vater wird von der libidinös erotisierten Vereinnahmung unangenehm ergriffen, fast will er sich losreißen, einen Schritt aus dieser intimisierten Nähe heraus machen. Einen Augenblick liegt Spannung in der Luft, dann sagt die Mutter mit bitter-süßen Resten: „Na, dann macht mal.“ Vater und Tochter entschwinden zur Gartenarbeit.

Wir haben es – ich muss es Ihnen nicht erläutern – mit einer ödipalen Realisierung zu tun, die alle drei Anwesenden in der ganzen Wucht und ernsten Wirklichkeit ergreift. Die Eltern können ihrer Tochter den Triumph dieser Grenzdehnung und –testung lassen, das Mädchen spürt aber Grenzen, weiß wohl und kann darauf vertrauen, dass ihre Regungen an der Schlafzimmertür der Eltern ihre Grenzen finden werden. Damit wird auch einer anderen Urphantasie, die der Urszene, Raum eingeräumt.

Nun zum malignen Beispiel einer anderen schwer kranken Hysterika,

die ich Frau Anders nenne: Die Patientin fühlte sich immer als Papas Liebling, durfte z.B. das Auto bemalen oder mit gelben Entchen voll kleben, sehr zum Verdruss der Mutter, die sowohl das Auto verunstaltet fand wie auch den Vater zu nachgiebig. Papa war der Tollste, wie die Patientin schon in der Voruntersuchung mit glänzenden Augen und verfolgter Mimik sagte. Nun zur Szene: Die Familie will sonntags einen Ausflug machen. Ich visualisiere eine schöne, leicht hügelige ländliche Umgebung mit Ententeich, Wiesen und Feldern. Der Vater steht an der offenen Fahrertür eines etwas hippiehaft aussehenden Autos, die Patientin, ein knapp vierjähriges Mädchen, befindet sich nahe der ebenfalls offenen Beifahrertür, die Mutter kommt vom ländlichen Haus, geht auf das Auto zu. Das Mädchen ruft: ‚Aber ich sitz‘ bei Papa vorne!’, dabei auf die Beifahrertür zulaufend. Die Mutter, eine schöne, kräftige Frau, erreicht auch das Auto, als der Vater zu schnell und zu laut ruft: ‚Selbstverständlich mein Schatz, Du sitzt beim Papa vorne!’ ‚Was’, bricht es brüllend aus der Mutter hervor, ‚Du spinnst wohl!’ Mit aller Wucht fliegt die Beifahrertür ins Schloss, ich zucke schmerzhaft zusammen, da ich die Finger des kleinen Mädchens zerquetscht fürchte. Die Mutter stürmt an ihrer Tochter vorbei davon, Zuschlagen der Tür und Wegrennen erzeugen spürbare Luftbewegungen. Das Selbst der Patientin duckt sich, sie steht im Sturm, hört seelisch auf zu sein. Reduziert auf Sinneseindrücke sieht sie die funkelnden Augen der sich umdrehenden Mutter, als der Vater in triumphierender Zorneswut ruft: ‚Na, dann steig mal ein, mein Schatz, dann machen wir den Ausflug eben alleine!’ Die Patientin steigt mit gespielter Fröhlichkeit ein, alles schwindelt ihr. Mehr weiß sie nicht, ihr Selbst hat sich zusammengekauert, ist wie nicht mehr da. Keiner sieht sie. Eine unglaublich dichte, präsente Erzählung in dem zweiten Vorgespräch.

Vergleichen wir die Szenen wird deutlich, dass die ödipale Prä-Konzeption  unserer kleinen Gärtnerin auf eine ödipale Realisierung trifft, die Konzeptualisierungen entstehen lässt, die aber die Unmöglichkeit der Realisierung beinhalten. Wichtig scheint mir, dass die Eltern in der Lage sind, die projektiven Identifizierungen ihrer Tochter aufzunehmen und mit eigenen unbewussten Dimensionen zu verbinden. Die Mutter ist die Ausgeschlossene, sie fühlt wirklich den Ausschluss, der eben ernst ist, nicht kindlich liebreizendes Spiel. Sie kann, so können wir begründet spekulieren, diese Ausschlussgefühle mit eigenen unbewussten ödipalen Erfahrungen verbinden, mimisch und gestisch der Tochter diese Wucht zeigen, dann aber sie gewähren lassen. Ganz ähnlich der Vater: Er spürt die intime Nähe, will sich losreißen, muss dieses „Zu-Intime“, mit all den zugehörigen Affekten, in sich aufnehmen, den gewollten Losreißschritt spüren, um schließlich nicht beschämend an der Seite seiner Tochter zu bleiben. Das Mädchen spürt ihre Grenztestung und die Wucht ihrer Projektionen, ahnt, dass die container wanken, spürt damit die Gefahr gewaltsamer Reprojektionen (wütende Zurechtweisung durch die Mutter, Beschämung durch den Vater) und die Macht des Ödipalen. Damit ist ihr klar, dass eine inzestuöse Realisierung nicht sein wird, sie von den Eltern letztlich geschützt wird.

Wir können zugleich sehen, wie schnell diese kleine Szene sich auch anders hätte gestalten können. Hätte das kleine Mädchen z.B. mit verstärktem Neid zu kämpfen gehabt oder unter einer Trennungsintoleranz gelitten, wäre vielleicht die eingesetzte projektive Identifizierung genau den Tick provokanter und manipulativer ausgefallen, aus dem ein kurzer Disput entstanden wäre. Der Mutter wäre ein scharfes Wort entwichen, der Vater hätte auf sie reagiert. Ein kleiner Streit, den das Mädchen z.B. als aktualisierte Urszene erlebt, an der sie sich nun teilnehmend phantasiert, oder den Vater zum Kastrator der Mutter macht, damit ihre Rache gegen die Mutter ausagierend und sich selbst als „eigentliches Objekt“ einsetzend.

Ganz anders die Deckerinnerung meiner hysterischen Patientin.

Hier trifft die ödipale Prä-Konzeption auf eine Realisierung, die de facto eine Missrealisierung ist, in der schließlich das Selbst verschwindet. Die Katastrophe ist vielschichtig, ich möchte nur auf zwei Dimensionen eingehen, auf das Versagen des ödipalen Vaters und das der ödipalen Mutter. Das Ödipale des kleinen Mädchens drängt zur Realisierung. Die Vierjährige wagt die Grenztestung, will die Mutter ausschließen, die im Fond Platz nehmen soll. Die zu schnelle Gewährung durch den Vater, die ein spürendes Aufnehmen verweigert, ist bereits die erste Verunmöglichung der Entfaltung eines ödipalen Wagnisses. Realisierungen und containment haben ihre eigene Zeit, die nicht gegeben wird. In der Wahrnehmung der Patientin ist der Vater auf die Mutter ausgerichtet, parentifiziert einen Konflikt des Paares. Bereits in diesem Moment muss die Patientin das Gefühl haben, gar nicht gemeint zu sein, womit die ödipale Realisierung verformt wird, aber auch ihr Selbst unterhöhlt wird. Die Mutter reagiert mit äußerster Heftigkeit, die sich noch in meinem Schrecken einer Handzerquetschung zeigt. Auch hier hat das Ödipale nicht seine Zeit, die Mutter hat keinerlei containment, ihre Antwort verwirrt: Wer spinnt denn? Der Vater oder das Mädchen? In diesem Sturm, in dem wirklich die Luft wirbelt, gibt es keinen Raum mehr, diese Unklarheit zu lösen, das seelische (aber wohl auch kognitive) Denken beginnt aufzuhören, Sinneseindrücke ersetzen Gefühle. Der Ausschluss der Mutter wird zur Katastrophe und zur Gefahr, die funkelnden Augen morden. Die Einstiegsaufforderung des Vaters gilt wiederum nicht der Patientin, sondern verfolgt die Mutter, treibt das Mädchen aber in eine intime Nähe, die gefährlich-inzestuös erlebt wird. Schockzuständen nicht unähnlich, hat sie ihr Selbst verloren, spielt automatisiert Fröhlichkeit. Die Mutter ist ausgeschlossen, der Vater zu haben, das Ödipale ist da, hat aber zerstört, zugleich ist das Ödipale missrealisiert und das Selbst gefährdet und die Triade gesprengt“ (Nissen, 2013).

Freud zeichnet in seiner Theorie des Ödipuskomplexes eine bedrohliche Vaterfigur, die Furcht und Terror bei ihren Kindern erweckt und Kastrationsangst verbreitet, weil das Kind seine Mutter sexuell besitzen möchte. Paul Verhaeghe zweifelt an der Brutalität des Freudschen Vaters. Schließlich waren genau die Väter seiner Patienten aus den großen Krankengeschichten selbst krank, schwach oder Versager. Er spricht den Kontrast zwischen Theorie und Fallbeschreibung an und stellt fest, dass Freud seine Theorie insofern veränderte, als er das Konzept der Urphantasieen einführte und meinte, dass das Kind in seinen Ängsten vor dem Vater gar nicht so sehr auf seine eigene, sondern auf eine andere Realität, die im kollektiven Unbewußten der Menschheit angesiedelt ist, bezug nimmt. Nämlich dem Mythos von der Urvater und der Urhorde, der alle Weibchen seiner Horde in seiner Gewalt hat und deshalb von seinen Söhnen ermordet wird, damit sie sich Zugang zu den Frauen verschaffen. Dieser Urmord schließlich mündete in einem universellen Schuldgefühl und begründete das Inzestverbot als Grundlage für jegliche Sozialordnung.  Verhaeghe stellt dem hingegen die Angst vor der Mutter/Frau entgegen, die weit plausibler wäre – nämlich als Angst in den Anderen zurückzukehren, in den Körper von dem wir abstammen. Das angsterweckende Thema vom Verschlungenwerden taucht in vielen Mythen und Märchen auf. Moderne AnthropologInnen wie Evelyn Reed (1975) beschreiben Ernährungstabus in primitiven Gesellschaften, die matrilinear funktionieren. Das Verbot, das eigene Totemtier zu essen, geht auf das ganz ursprüngliche Verbot zurück, reinkorporiert, also in den Körper eingegliedert zu werden. Die radikale Andersartigkeit vorpatriarchaler, matrilinearer Gesellschaften stützt sich vor allem auf einen Wert: Primitiven Völkern ist das erste und wichtigste Element, das einer Regelung unterzogen wird nicht die Sexualität sondern das Essen. Auf der Basis von Tabus, die die Ernährung betreffen, bildeten sich die ersten Sozialordnungen, die Klans heraus. Der Klan ist durch das Tabu sexueller Beziehungen bestimmt, die Untergruppe Frauen/Mädchen ist für die Gruppe Männer/Söhne verboten, was an ein ursprüngliches Inzestverbot denken lässt. Aber dieses Verbot unterscheidet sich grundsätzlich von jenem Inzestverbot das wir kennen. Dieses Tabu hat überhaupt nichts mit einem ödipalen Verbot in Verbindung mit dem Vater zu tun. Die Väter existieren hier nicht. Das Verbot der Sexualbeziehungen unter den Mitgliedern ein und desselben Klans wird durch Ernährungstabus symbolisiert, die die Trennung sicherstellen. (Zwischen verschiedenen Klans sind Sexualbeziehungen ohne Einschränkungen erlaubt – z.B. auch Promiskuität. Die Loyalität ist rein an den Klan gebunden und strikt matrilinear, schließt somit jegliche Bindung an den Sexualpartner, der einem anderen Klan angehört, aus.) Nicht die im ödipalen Konkurrenzkampf eingesetzte Kastrationsdrohung beherrscht hier das Geschehen sondern die Angst vor dem Verschlungenwerden durch die „Urmutter“. Findet in dieser vaterlosen, matrilinear organisierten Urgesellschaft nicht die vom oralen Genießen bestimmte Mutter-Kind-Einheit ihren phylogenetischen Niederschlag? Und müssen nicht die Gefahren der Verschmelzung, die  aus der Sehnsucht nach der frühen Mutter-Kind-Dyade herrühren, durch strikte Trennungstabus  abgesichert werden. Die kleine Yara jedenfalls ist wohl bei ihrer Phantasie, dass sie ihren Bruder im Bauch hat, spielerisch mit dieser Trennungslinie beschäftigt.

Bibliographie

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